Leseproben

[Eine unartige Geschichte]

Jeder alternde Weißnichtmehr kann sich glücklich schätzen, wenn ihm ein treuer jüngerer Freund, den das Kurzzeitgedächtnis noch nicht im Stich lässt, tröstend und helfend zur Seite steht. Mein diesbezüglicher Assistent ist der pensionierte Anwalt Dr. Peter R. Rosenzopf, kaum zwei Jahrzehnte jünger als ich, der wohl ziemlich kurzsichtig ist, keinesfalls aber von kurzem Verstand mit schadhafter Kurzzeiterinrierung. Diesen Vorteil verdankt er offenbar seiner Berufspraxis, musste er doch das Kurzzeitgedächtnis sein Leben lang fit halten, sonst wäre ihm ja manches Honorar für die erledigten Prozesse die Drau hinuntergeschwommen.
Mit diesem Anwalt Peter lebe ich in einer Art gegenseitiger Interessengemeinschaft. Jeden Morgen um acht ruft er mich gleich nach meiner Bodengymnastik an, um mich auf verschiedene Fragen antworten zu lassen, etwa: Was hast du gestern zu Abend gegessen? Wie oft hast du in der Nacht Wasser abgeschlagen? Wo hast du diese Nacht geschlafen? Um wieviel Uhr hast du dich hingelegt? Um wieviel Uhr bist du aufgestanden? Wer hat dich geweckt? Hast du schon die Papalatur vom Kukident gereinigt? Wie viele eigene Zähne hast du noch? Wie heißt der Kärntner Bischof? Wie heißt deine momentane Freundin? Wo weidet das Schaf, das sein Leben für dich geben soll? Was ist Reginald derzeit von Beruf? Welcher slowenische Pfarrer trägt eine goldene Halskette mit Jesus aus Gold? Welche Autonummer hat dein Citroën? - Mindestens zehn Fragen muss ich Morgen für Morgen beantworten, vorher lässt er mich nicht aus der Zange.
Als Gegenleistung für dieses karitative Festigen meines Kurzzeitmemorierens musste ich dem Anwalt Peter, einem begeisterten Liebhaber literarischer Krimis, unter Eid versprechen, ihm wenigstens alle vier Wochen eine neue durchtriebene, möglichst brisante Geschichte aus dem vollen Speicher meines Langzeitgedächtnisses im Umfang von mindestens vier Seiten abzuliefern. Und den Pflichttermin zum Lesen dieser Geschichte haben wir jeden letzten Freitag im Monat, um zehn im Cafe Wegscheid, direkt dem gespenstischen Drachen gegenüber.
In diesen Sitzungen macht sich der Anwalt Peter nach meiner Lesung dann mit professioneller Sinneslust an die mir eventuell bevorstehenden Klagen, Anklagen und Beschwerden der diversen Typen in meinen schon publizierten Geschichten, die sich darin verunstaltet, angeschwärzt, geschmäht, verleumdet oder angeschissen wiedergefunden haben, und er stilisiert meisterhaft zu meinem Autorennutzen die zu Beweis und Verteidigung nötigen Antworten, Einsprüche und Plädoyers aller Art, kurzum, eine juridische Essayistik von hoher moralischverbaler Qualität, die mir garantiert, dass ich mich aus der Asche jeglicher Art von Prozessen nach dem Mediengesetz jedesmal wieder wie der sagenqmwobene Phönix erhebe, rein wie eine weiße Lilie!
Welch literarischer Feinschmecker! Welch pfiffiger Jurisprudenzler!
Wie soll ich ohne ihn überleben?

Mein Korotan moj. Moj Kregistan mein. Drava 2004.
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[Grüß Gott und Mahlzeit!]

Unlängst öffne ich die Tür zu meinem Friseursalon, und schon fliegt mir der Befehl der reizenden Friseurinnen an den Kopf: »Grüß Gott, Herr Professor!« Ich frage: »Gleich jetzt oder erst nach dem Frisieren?« - »Ich versteh Sie nicht,« - meldet sich ihre Chefin mit großen fragenden Augen. »Ich möchte wissen, ob ich ihn gleich grüßen soll oder erst mit geschnittenem Haar?« »Wen wollen Sie grüßen?« »Ja, Ihren Gott doch, zum Teufel noch einmal, habt ihr mich nicht soeben unisono dazu aufgefordert: Grüß Gott, habt ihr gesagt!« »Ja, schon, aber das ist ja nur ein Gruß, so wie ›guten Tag‹«, verzieht sie schmollend den liebreizenden Mund.
Ja, es ist zum Heulen: Je älter ich werde, umso ärgerlicher und schmerzvoller trifft mich ihr unsäglich grobes Ansinnen, eine Teufelei ist es, eine hintergründige, hinterhältige Suggestion: Solange ich noch halbwegs oder wenigstens viertelwegs gehen kann und gesegneten Appetit auf Lammfleisch und Bachforellen und Schafskäse von den griechischen Inseln und Biskuitroulade entwickle, den lasse ich mir doch nicht von solchen missgünstigen Typen verderben, und überhaupt, wo ich diesem meinem innigst geliebten Kärntner Hamatle und seinem tief katholischen Häuptling, dem innigsten Freund des Eiligen Vaters, weiterhin in Treue zu dienen bereit bin …
Ja, es ist zum Verrücktwerden, wenn nicht gleich zum Durchdrehen. Vor allem, wenn sie dich in ein Spital bringen und dort irgendwelchen taufrischen jungen Schwestern ausliefern! Oh, ich hab dort Patienten in ihren letzten Schnaufern liegen gesehen und ihnen sehr wohl nachempfinden können, wie grässlich sie die Forderung »Grüß Gott« aus dem Mund solch süßer Sirenen hat treffen müssen: »Grüß Gott, Herr Posratschnigg!« Wie mit einem Holzhammer auf ihren Kopf, o weh, ihr armen Teufel in Engelshänden! Mensch stelle sich einen solchen Zynismus vor, solch eine bissigpietätlose Verabschiedung aus herzlichem Kusslippenmund - direkt ins verzagende Gesicht einer kraftlosen Kreatur gehaucht! Brrr …
Du wirst mir Recht geben, dass ich diesbezüglich bereits Vorsorge getroffen und meinen Leibarzt sowie meine liebe Familie angewiesen habe, mich im Falle meines zu erwartenden Exitus in einem verlässlich gottlosen Sonderkrankenzimmer des LKH unterzubringen. - Gegen Aufpreis, versteht sich.
Was sagst du da, »Grüß Gott« sollte ich wie einen Witz betrachten, um ihn leichter zu ertragen?
Na, da hast du aber Nerven mit deinem »Witz«! Anstatt der Internationale spielen die heute im Interspar die Grüß-Gott-Aufforderurig bereits in grünen Leuchtlettern bei jeder Kassa!
Oder wie einen gedankenlosen formalen Gruß halt, etwa wie »Servus« oder »Habidiere«? Du sagst, es stehe nicht dafür, so einen Stumpfsinn zu dramatisieren. Widerspruch, mein Lieber, Widerspruch: Mit Gott ist so oder so nicht zu spielen. Schau dich ein wenig bei den Nachbarvölkern um. Auch mein blitzgescheites Slowenenvölkchen ist gegenreformatorisch katholisch getrimmt und seelisch vergewaltigt worden! Und doch grüßt ein gläubiger Slowene: »Dober dan, bog daj« – Gott gebe uns einen guten Tag! Oder noch kürzer: »Bog daj«! Also fordert er etwas vom Allmächtigen! Wenn der ihn schon erschaffen hat, soll er sich gefälligst auch um ihn kümmern!
Aber erwarte ja nicht von der hochmütigen grande nation allemande, es könnte ihr jemals in den Sinn kommen, sich bei dem Häuflein der Slowenen eine diesbezügliche sinnreiche Anleihe zu holen! Wo denn her, ein Herrenvolk tut so etwas doch nicht, viel lieber tschüsst es und tschüsst es bei Tag und bei Nacht bis zur Bewusstlosigkeit! Da hilft kein Allmächtiger, denn mit der Dummheit kämpfen selbst Götter vergebens, wie auch Schiller erkennen musste. Und auch das ist erwiesen: Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz.

Grüß Gott - Slowenenschwein. Drava, 2003.
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[Hofrat H. H.]

Er nähert sich der Tür. Unwirklich. Wie im Traum. Geht ein paar Schritte an ihr vorbei. Sucht Aufschub. Weshalb eigentlich?
Das Antwortschreiben brennt an seiner Brust: »Ihrem Gesuch um Anstellung im Landesdienst kann leider nicht entsprochen werden, da einige unabdingbare Voraussetzungen fehlen.«
Welche Voraussetzungen, zum Teufel, sind da wohl unabdingbar? Er hat doch ein normales gültiges Diplom: Und einige Jahre Praxis. Das wäre ja gelacht, wenn er es nicht zuwege brächte! Es gibt kein Kismet. Wo ein Wille, auch ein Weg.
Und doch, was erwarten sich die da drinnen von ihm?
Er tritt zum Blechschild am Türpfosten: LANDESPLANUNGS- UND VERMESSUNGSAMT . Darunter in kleineren Buchstaben: Hofrat H. H. - Abteilungsleiter.
Es ist ihm plötzlich, als würde ihn eine unsichtbare Hand bedächtig bei der Gurgel fassen … Das wird doch nicht er sein … !? Das wird doch hoffentlich nur ein Namensvetter von ihm sein … ! Er zieht das negative Antwortschreiben aus der Tasche und vergleicht die schlecht lesbaren Buchstaben der Unterschrift mit jenen am Namensschild. Doch, sie stimmen überein. - Da soll sich einer auskennen … Der Beamte von vorher kommt zurück - den leeren Korridor entlang. Er hat einen sehr selbstbewußten fröhlichen Gang, wie wenn der ganze Korridor nur ihm zum Spaß errichtet sei. Plötzlich bleibt er vor ihm stehen.
- Was wünschen Sie? Suchen Sie jemanden?
- Ich möchte wissen, ob der Herr Hofrat da auf dem Türschild in der Nazizeit ein gestiefelter Geschichtsprofessor war …
- Wer sind Sie und was wollen Sie vom Hofrat?
- Ich bin Diplomingenieur ohne Arbeit. Habe hier um Anstellung angesucht.
- Ihr Fall ist mir bekannt. Sie wurden abgewiesen.
- Ja, leider.
- Und Sie meinen, Sie könnten mit ehrenrührigen Behauptungen auf das Konto eines Abteilungsleiters denselben für Ihre Interessen gewinnen?
- Ich habe ihn nicht beleidigt. Ich habe nur gesagt, daß ein H. H. mein Geschichtsprofessor und ein Nazi war.
- Und was geht das Sie an, was er früher einmal war?
- Und ob es mich angeht, mein Herr, zwischen seiner politischen Vergangenheit und der abschlägigen Antwort auf mein Anstellungsgesuch könnte ja schließlich ein ursächlicher Zusammenhang bestehen.
- Sie sind sich doch dessen bewußt, daß Sie damit eine böswillige Verdächtigung ausgesprochen haben?
- Verstehe ich nicht.
- Haben Sie noch nie etwas von der Entnazifizierung gehört? Vom Straflager in Wolfsberg?
- Entlausung des Körpers - ja. Aber kann man denn auch den Geist eines überzeugten Nazis so ohne weiteres entlausen? So einer hat doch ein Gemüt wie ein Fleischerhund. Und ein Gebiß wie ein Hai: jeder herausgeschlagene Zahn wächst ihm in kurzer Zeit nach. Oder stimmt es nicht, daß die ehemaligen Mitglieder der NSDAP in den Ämtern unserer Stadt allmählich gerade die höheren Posten wieder besetzt haben?
- Na und? Hätten Sie lieber Partisanenkommissare darin?

Kako sem postal gospod/Wie ich ein »Gospod« wurde. Drava, 2002.
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Atej

An jenem Frühlingsmorgen des 14. März 1970 war es kalt, aber sonnig. Nachts war noch unerwarteterweise ziemlich viel Schnee auf die schon apere Erde gefallen. Der Schwager hatte mir am Abend vorher am Telefon mitgeteilt: Jetzt komm nur, der Vater wird nicht mehr lang sein, es geht zusehends schnell dem Ende zu mit ihm.
Es ist Samstag, mein unterrichtsfreier Tag in der Woche. Ich beeile mich, zum ersten Morgenzug zu kommen. Wie ich in den Hof trete, treffe ich den Schwager unterwegs zum Stall. Noch bevor wir einander die Hand reichen, sagt er mit nachsichtiger Stimme:
Gerade soviel, daß du ihn versäumt hast. Er ist soeben erloschen.
Neunzig Jahre und noch drei Monate dazu, sagt meine Schwester an der Schwelle des Hauses mit erkennbarem Stolz in der Stimme.
Und noch zwei Tage dazu, ergänze ich.
Und niemals richtig krank, sagt' die Schwester, noch vor drei Tagen ist er nachts alleine aufs Klo gegangen, vorgestern hat er zum ersten Mal das Frühstück verweigert: heut werd' ich aber nicht mehr frühstücken, trag nur weg den Kaffee.
Einen so würdevollen Abschied sollten wir ihm vergönnen, überlege ich: ohne körperliche Schmerzen, ohne seelische Qualen, umgeben von lächelnden, lebhaften Enkeln, ein gütiger, geruhsamer Abschied, tatsächlich: wie wenn eine Kerze verlischt, sobald das letzte Wachs geschmolzen und der Docht abgebrannt ist.
(…)
Ich lege meine Hand auf seine große eckige Stirn. Noch ist sie warm. Auf seinen Backenknochen liegt noch immer eine Spur seiner gesunden Röte … Du warst elf Jahre älter als meine Mutter, und hast sie um achtzehn Jahre überlebt, sage ich unhörbar, mehr zu mir selbst als zu ihm. Jetzt ruh' dich aus, in Frieden; ich streichle ihn an beiden Schläfen; spüre, wie ich gegen ein Gefühl kämpfe, von dem ich nicht wußte, daß es überhaupt in mir war.
Ich setze mich in den Stuhl und schaue durch das Fensterkreuz auf den Hof; die Sonne scheint auf die kahlen Zweige des großen Nußbaums, den der Bruder gepflanzt hatte, bevor er an die russische Front mußte; wie alt ist er wohl schon, drängt sich mir die Frage auf, um die dreißig Jahre vielleicht. Ich ertappe mich beim Versuch, vor dem anwesenden Tod des Vaters zu fliehen, denn das ganze Haus ist erfüllt von seiner allmächtigen, unsichtbaren, jedoch spürbaren, das Gewissen erforschenden Starrsinnigkeit.
(…)
Sorgfältig gestutzt, sein borstiger Schnurrbart, wie immer. Soweit ich mich zurückerinnern kann, war es die Aufgabe meines fürsorglichen Schwagers, ihn samstags nach Feierabend zu pflegen. Diese Woche hatte er seine Arbeit offensichtlich bereits am Donnerstag getan, nachdem der Vater seinen ersten leichten Schlaganfall hatte; für den Fall, daß er schon vor dem Sonntag den letzten Weg gehen müßte.
Seine stumme Kraftlosigkeit schneidet sich wie ein Dorn in mein Herz. Ich lasse mir mein Verhältnis zu diesem geheimnisvollen, jetzt in endgültige Machtlosigkeit versunkenen Mann durch den Kopf gehen; setze es aus fragmentarischen Szenen der frühen Jahre zusammen. Damals hatte ich zweifache Angst vor ihm: die gewöhnliche und die heilige. Die gewöhnliche, wenn ich ihm - auf dem Grenzstein sitzend - zusah und hörte, wie er ohnmächtig die dummen Ochsen vor dem Pflug anbrüllte und sie mit der Peitsche übers Maul schlug, bis sie taten, was er wollte; und die heilige, wenn er die neugierigen Fragen von uns Kindern mit Schweigen beantwortete - oder so abgeschnitten, daß uns die Neugierde auf Anhieb verging. Habe ich ihn auch manchmal bewundert? Ja, doch, vor allem, wenn er uns, aufgewärmt vom Birnenmost, ganz, ganz seltsame Geschichten aus dem Ersten Weltkrieg erzählte, lauter ineinander verwobene grausige Schauergeschichten, moj kuši, und unglaubliche Wunderdinge.

Schwarzweiße Geschichten. Drava, 1995.
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