Leseproben

[Der Hirte Ciril]

Das Gewitter überraschte Ciril in Križe, knapp über den schwindelerregenden Wänden des Grlovec. Dort weidete ein Schafhirte seine Herde. Die beiden Hirten fühlten das Nahen des Gewitters, daher wollten sie die Herde aus diesem gefährlichen rutschigen Gelände treiben. Doch da umhüllte sie plötzlich dichter Nebel. Es blitzte und donnerte, daß man nicht einmal seine eigene Stlmme hören konnte. Bald hatten die Hirten einander aus den Augen verloren. Ciril tastete um sich herum, um einen Halt gegen den Sturm zu finden. Er tastete sich zu einem Felsen und preßte sich gegen ihn. Da brauste der Sturm jäh von Süden heran, und ein schrecklicher Platzregen ergoß sich auf die Achomitzer Alm. Walnußgroßer Hagel schlug gegen die Felsen und prallte stahlhart von Wand zu Wand.
Drei Schafe und ein schmächtiges Lamm drückten sich blökend an den Hirten. Das größte Mitleid hatte Ciril mit dem kleinen Lamm, das vor Angst nur so zitterte. Plötzlich ein Blitz vom Himmel bis zur Erde, dann ein furchtbarer Knall. Das Lamm drängte sich an Ciril vorbei auf die andere Seite des Felsens. Dort gähnte ein Abgrund, über 100 Klafter tief. Ciril hatte schon unzählige Male über die senkrecte Wand in die halbdunkle bodenlose Tiefe gestarrt. Weit unten hörte man nur das hohle Gurgeln der unterirdischen Gewässer. Wenn das Lamm hier hinunterstürzte! Ciril erzitterte. »Ein treuer Beschützer unserer Herden sein, ein Hirte, wie ihn der heilige Johannes beschreibt …« Diese Gedanken durchzuckten plötzlich sein Gehirn, so daß ein kalter Schauer seinen Körper überflog. Sollte er dem Lamm nach? - Wieder schlug es in der Nähe ein, der Wind heulte langgezogen auf, jenseits des Felsens war ein Poltern zu hören, als ob sich ein Stein gelöst hätte und ins Tal rutschte.
»Ein treuer Beschützer …, wie ihn der heilige Johannes beschreibt …«
Es gab ihm einen Stich ins Herz. Eine innere Stimme flüsterte ihm zu: »Was schert dich das kleine Lamm! Nicht du bist ja dafür verantwortlich, sondern der Schafhirte!«
Doch da mischte sich wieder die andere Stimme hinein: »Ciril, hast du kein Mitleid mit dem unschuldigen Lamm? Grausam bist du, Ciril, hast du kein Herz?«
In diesem Augenblick geschah etwas Schreckliches. Jenseits des Felsens war ein schmerzvolles Jammern zu hören. Ciril konnte nicht ausmachen, ob es die Stimme eines Menschen war oder nicht. Plötzlich erinnerte er sich an den Schafhirten und fuhr in die Höhe.
»Jurij …!« schrie er. Der Sturm trug seinen Ruf weiß Gott wohin. Jenseits des Felsens war wieder alles still …
Ciril konnte sich nicht mehr zurückhalten. Er schob sich vorsichtig zum Abgrund hin. Ein kalter Atem schlug ihm aus der Tiefe entgegen. Vom Lamm keine Spur!
Tiefer und tiefer kriecht der Hirte hinunter. Noch einen Schritt und der schwarze Abgrund gähnt ihm entgegen. Jeden Augenblick kann er ausrutschen und in die Tiefe stürzen.
Da, wieder, ein Blitz, der Sturm zerreißt für einen Moment den Nebel, und Ciril sieht ein paar Klafter unter sich das Lamm; es hängt wie in einer Schlinge zwischen den Wurzeln einer Lärche, die aus der Erde über den Fels hinausragen. Es lebt noch. Er kann genau sehen, wie es sich krampfhaft abmüht und mit allen Vieren zappelt, um sich von den Fesseln zu befreien, die es gefangen halten! Armes Tier! Es ahnt wohl nicht, daß darunter ein Abgrund gähnt, hundert Klafter tief, und daß am Grund der kalte Tod auf sein Opfer lauert.
Ciril denkt nach, überlegt … Er hat sich entschieden: Vorsichtig, Fuß um Fuß läßt er sich herab. Ein jeder Stein kann abbröckeln, jedes Stück Erde kann ihm den Halt versagen, jeden Augenblick kann er ausrutschen. Schon erkennt er im Nebel die Umrisse des zarten Körpers, der um Leben und Tod kämpft.
Beeile dich, Ciril, schnell, die Wurzeln lassen nach, eine schlägt schon schlaff gegen die Wand. Und Ciril läßt sich tiefer und tiefer hinab. Seine Finger bluten, die Kleidung klebt an den Gliedern. Noch einen guten Meter, und er kann das Lamm retten. Da, o Grauen …! Der Stein, auf den er seinen Fuß gesetzt hat, gibt nach. Ciril gerät ins Schwanken. Die Muskeln spannen sich krampfhaft, dann ein gewagter Sprung und - dem Hirten glückt es, auf einem flachen steinernen Untersatz knapp über dem Lamm zu landen. Noch einen Augenblick - und das Lamm ruht in seinem Schoß.

Deutsch von Kristijan Močilnik

Das slowenische Wort in Kärnten. Slovenska beseda na Koroškem. Österreichischer Bundesverlag 1985.