Leseproben

rausgehen

UND DA WAR ES. dieses eigenartige wohlige gefühl, das womöglich auch tauben verspüren, wenn sie dabei sind zu fallen. nur war es bei dieser person anders. denn sie war keine taube und mochte es auch nicht werden. keine wirkliche taube, die fliegt und fällt mit jedem wort, das sie nicht versteht, aber eine taube in gedanken. also keine taube.

und da war sie. diese person, mit beiden beinen fest am wieder-fremden boden stehend und bereit, ihre beine wie metallkugeln nach vorne und nach hinten pendeln zu lassen, um sich weiter zu schaufeln.

der zug fährt ab.

diese person sitzt nicht im zug und steht nicht davor. diese person macht sich nur gedanken. es gibt diesen zug in dieser form nicht. nur in ihren gedanken. und in ihren gedanken steht sie nich vor dem zug und hofft auf eine baldige abfahrt, um der sonne endlich platz zu geben, aber sie geht spazieren. den kanal entlang. sie demkt am all die bilder, die langsam aber rasend schnell von der wand auf den boden rutschen. entweder war das doppelseitige klebeband nicht kräftig genug oder die erinnerung an das erlebte.

der kanal zieht sich. er wurde seit letztem mal nicht länger.

ein dauerhafter besuch in der jeimat ist der grund für das spaziergehen. diese person ist ein mann, mitte vierzig, der nach 29 jahren das gefühl verspürt, nach hause kommen zu wollen.

nach hause spazieren.

die blätter fallen von den bäumen und kein einziuges streift ihn an seinem körper, obwohl er versucht, so geradlinig und langsam wie möglich zu gehen. fast schon kommt es zum körperlichen stillstand. er könnte auch den bus nehmen, aber dann würde er die möglichkeit von blättern berührt zu werden komplett ausschließen. die erinnerungen streifen ihn, als er kurz zum himmel aufsieht, der ihm so bekannt und fremd zugleich vorkommt. dieses untypische blaue blau, das so gleich und anders als gestern und morgen aussieht.

er ist einer utner einigen, die an diesem tag beschließen, am kanal entlangzugehen, nur hat er als einziger einen koffer bei sich, den er wie einen widerwilligen hund hinter sich herzieht. das gefühl, das der mann verspürt, wenn er auf die wasseroberfläche des flusses schaut, lässt seinen mundwinkel kurz schief werden, denn er fühlt, wie das gefühl nach heimat in seinen fingerspitzen zurückkehrt.

wie auftauende finder nach einem langen abend im winterlichen schnee. damals war es januar, jetzt rast der frühling an allen vorbei und tut so, als wäre er der sommer in person.

der nachzug eines vorbeilaufenden joggers reißt den mann aus seinen gedanken und er geht weiter. der zurückgekehrte macht sich gedanken über erinnerungen. er überlegt, wie viel er noch von diesem ort als richtige erinnerung erkennt. eine nicht verfremdete erinnerung. ein ort, der so bleibt wie er ist und nicht so ist, wie er sein soll. er erkennt einen baum, der ihm früher nur selten aufgefallen ist. in seiner erinnerung war dieser viel grüner. vielleicht werden auch bäume irgendwann müde und verblassen nach einer gewissen zeit wie viel zu helle wolken.

in seiner kindheit ging der mann oft diesen weg entlang. er wollte immer schneller sein als am tag zuvor und so wurde aus dem gehen ein rennen und aus dem rennenn ein stehen, weil er nicht mehr konnte. er rannte nie weiter als bis zur brücke, bevor er abrupt abstoppte, obwohl er jedes mal wusste, dass er an dieser stelle stehenbleiben wird.

dort kaufte er sich ein eis. jedes mal nur eine kugel, nie mehr. und auch diese kugel war ihm immer öfte zu viel geworden, denn er aß sehr langsam. im sommer läuft die zeit beim eis essen wegen der temperaturen davon. eine halbe kugel konnte man nicht bestellen. es würde immer eine kugel werden. und ein halbes eis wollte er nicht teilen. die eine hälfte aß er in eile und bei der zweiten ließ er sich zeit. manchmal wartete er auch einfach auf den herbst.

unbemerkter wind eilt an den leuten vorbei, ohne zu aufdringlich sein zu wollen.

er geht weiter am weg seiner bildlichen erinnerungen entlang und der gedanke, dass es nicht möglich ist, den see mit dieser route zu verfehlen, amüsiert ihn und er fragt sich zugleich, ob es schon irgendwer geschafft hat. jemand musste doch zu der zeit, in der fische in den hafen gefahren wurden, umgedreht, zurückgegangen und sein ziel damit geändert und auf gewisse weise verfehlt haben.

der wind weht heftiger und räumt die blätter auf. der mann hätte sich wärmer anziehen sollen, aber in seiner erinnerung war es immer warm, auch im winter.

der mann starrt auf seine armbanduhr. ein blick genügt nicht, um die zeit anzusehen. er ist sich für einen moment nicht sicher, ob er geblinzelt hat oder nicht, denn er meint, eine ausgefallene sekunde gesehen oder eben nicht gesehen zu haben. das wäre dann eine sekunde, die doppelt so lange anhält.

die 29 vergangenen jahre kommen dem mann viel kürzer vor als der zeitraum, den er vom hafen zum park gebraucht hat. das ist für ihn ein sehr ernüchterndes zurückschauen. es gefällt ihm.

in der zwischenzeit tickt seine armbanduhr wieder weiter. sie hat sich für eine sekunde selbst angehalten. für die dauer eines augenzuckens und niemand hat's bemerkt, auch nicht der mann, der sich so sicher war, die verpasste sekunde niederstarren zu können.

der nachmittag wird zum frühen abend und die sonne bewegt sich denen, die noch immer gehen, um voranzukommen. der mann wird allmählich müde und er beginnt sich vorzustellen, wie seine ankunft im seinem elternhaus ablaufen wird. er hat niemandem von seiner rückkehr erzählt. er wollte so zurückkehren, wie er gegangen ist: zur hälfte unerwarte und ein wenig stürmisch an einem sonnigen tag - damals war nicht klar, ob es noch regnen wird.

der kontakt zur familie ist während seiner abwesenheit langsam abgebrochen. wahrscheinlich waren beide seiten zu stur für ein alljährliches hallolebstdu zbd wennjawo? das hat auch etwas gutes, denkt sich der mann, denn auf diese weise hat er das gefühl, nie weg gewesen zu sein.

er kann sich gut vorstellen, 29 jahre einfach in seinem zimmer geblieben zu sein. wenn er jetzt die haustür aufmach, wird es sich wohl mehr wie ein rausgehen anfühlen als ein wiederkommen, und nach genau dem gefühl hat er gesucht.

"rausgehen" aus herausgehen Kurzegeschichten. Klagenfurt/Celovec: Mohrojeva/Hermagoras: 2018, Seite 31-41.